Swetlana Noshkina, Kasachstan, Almaty
Onkel Props Dorfsagen
Onkel Prop und seine Frau Matröna lebten in unserem Dorf. Sie hatten keine eigenen Kinder, deswegen luden sie uns Nachbarskinder oft zu sich nach Hause ein. Matröna verwöhnte uns mit ihren leckeren Piroggen, Onkel Prop erzählte Geschichten und zeigte uns dabei viele wundersame Dinge, die er selbst gemacht hatte.
Über den Eichhörnchen-Recken
«Ich erzähle euch einmal, warum die Eichhörnchen keine Angst vor den Menschen haben…», begann Prop eines Tages seine Geschichte.
In einem Eichhörnchenbau wurde einmal ein Junges geboren. Die Eichhörnchenmutter fütterte es mit Nüssen, Beeren und getrockneten Pilzen. Und so wuchs es zu einem wahren Recken heran. Seine Schultern wurden so breit, dass ihm der Bau zu eng wurde. Einmal hatte er sich ungeschickt bewegt, so dass der Baum dabei beinahe barst.
«Mein Recke, bitte sei vorsichtiger!», bat die Eichhörnchenmutter den Kleinen. «Lass unser Zuhause heile! Wo sollen wir denn sonst leben…»
Aber dem Recken wurde der Platz immer knapper. Er drehte sich so, andersrum hin und her, aber er fühlte sich durch den Bau immer mehr eingeengt. Am Tage seiner Volljährigkeit beschloss er jedoch, endlich aufzustehen. Und er stand auf. Seine mächtig gewordenen Arme streckte er durch die dicksten Äste und den Kopf in die Baumkrone.
So stand er dann da und die Eichhörnchenmutter fütterte ihn weiter mit Nüssen – von Morgen bis Abend. Ihre ganze Sippe half ihr dabei.
Eines Tages ließen sich zwei Vögel auf dem Baum nieder. Eine Zeitlang sahen sie sich die Eichhörnchen an.
«Na, schau mal, die Eichhörnchenmutter reibt sich völlig auf, aber der Riese im Bau da kommt nicht auf die Idee, ihr auch wenigstens einmal zu helfen.»
Als er das hörte, dachte der Recke einen Augenblick nach. Dann bewegte er mit der Schulter ein wenig die Äste, so dass die Vögel davon geschleudert wurden, und der Baum in sich zusammen fiel, und nur ein Haufen von Holzsplittern und Spänen übrig blieb.
Daraufhin ging im Wald ein großes Geschrei los. Die Eichhörnchenmutter hörte es und hastete geschwind nach Hause. Sie kam schließlich an und sah die Bescherung – es gab keinen Bau mehr, nicht mal den Baum, man sah nur noch Splitter und Späne.
«Junge, was ist denn hier passiert?», fragte sie den Recken.
«Reg´ dich nicht auf, Mutter», antwortete er. «Ich sorge schon für einen neuen Bau – darin wird unsere ganze Sippe genug Platz haben.»
Dann kümmerte er sich tatsächlich um einen Neubau. Er buddelte ein paar Baumstämme in die Erde, band sie mit Ästen zusammen – und fertig war das ganze große neue Haus.
So stand es mitten im Wald, und der Recke lebte dort mit den anderen Eichhörnchen zusammen. Die schleppten ihm Nüsse heran, er holte für sie Wasser aus dem Fluss und heizte im Winter den Ofen im Haus…
Onkel Prop verstummte plötzlich.
«Und?», fragten die Jungen sofort. «Wie geht die Geschichte weiter?“
Prop legte seine Schusterarbeit zur Seite.
«Lauft jetzt erst einmal nach Hause, die Sonne ist schon untergegangen. Wenn der Morgen den Tag gut werden lässt, dann kommt ein neuer Abend – und dann erzähle ich weiter.»
Wir liefen zwar heim, aber ungern, und konnten den nächsten Abend kaum abwarten.
«Einmal ging der Recke zum Fluss, um Wasser zu holen», setzte Prop die Geschichte an jenem Abend fort. «Da sieht er auf dem anderen Ufer seltsame große Eichhörnchen, nur ohne Fell und ohne Schwänze. Sie rennen auf einer Lichtung hintereinander her und tanzen herum.
Der Recke fand eine Stelle, an der der Fluss schmaler war, und beobachtete die seltsamen Lebewesen weiter. Er sah, wie sie herumtollten und sehr seltsame Sachen machten. Dann band eines der großen Eichhörnchen das Fell auf seinem Kopf los und tauchte es in den Fluss. Der Recke schwamm, von Neugier gepackt, dort hin und berührte und betastete dieses Fell, denn es kam ihm sehr seltsam vor. Das Rieseneichhörnchen bemerkte das natürlich sofort und stierte ihn mit riesigen Augen an. Es kreischte so laut los, dass der Recke Angst bekam und sich schellst von dannen machte.
Er rannte nach Hause. Dort wollte er von der Eichhörnchenmutter wissen, was er für seltsame Eichhörnchen dort am Fluss wohl gesehen habe. Die Mutter aber seufzte nur.
» Das sind Menschen, die du dort gesehen hast Und du bist auch einer von dieser Sorte. Vor langer Zeit bist du als kleines Paketchen zufällig in meinem Bau gelandet – denn man hatte dich ausgesetzt», antwortete die Eichhörnchenmutter. «Ich wusste, dass du die deinen irgendwann einmal sehen würdest. Jetzt ist es an der Zeit, dass du mich verlässt. Aber – vergiss niemals, wer dich großgezogen hat. Und tue uns niemals etwas zu Leide. Dein Name aber lautet: Eichhörnchen-Recke.»
So verließ er den Bau seiner Ziehmutter und ging in das Dorf der Menschen. Die waren ganz aus dem Häuschen, als sie ihn sahen, sie umringten ihn, berührten und bestaunten ihn und seine seltsamen Kleider. Dann kam die junge Frau, deren Haare er berührt hatte, nahm ihn an die Hand und führte ihn in ihr Haus.
Seitdem lebten sie zusammen. Die Schöne sagte, sie sei seine Frau. Sie fütterte ihn und sorgte für ihn und er für sie. Er brachte ihr aus dem Wald jede Menge an Beeren und Nüssen.
«Warum bringst du mir niemals Fleisch mit?», fragte sie ihn eines Tages.
«Was für Fleisch?», gab der Recke zurück.
«Wie – was für Fleisch?», wunderte sich seine Frau. «Fleisch von einem Hirsch oder von einem Reh zum Beispiel.»
Der Recke zog bald wieder in den Wald, fand einen Hirsch, tötete ihn und brachte seiner Frau dessen Fleisch.
«Der Winter kommt bald», sagte sie zu ihm. «Gegen die Kälte hätte ich dann gern einen gefütterten warmen Mantel. Einen Pelzmantel.»
«Und woher soll ich denn einen Pelz hernehmen?», erkundigte sich der Recke.
«Töte ein paar Eichhörnchen — sie haben schöne weiche und wärmende Pelze», schlug seine Frau vor.
Der Recke wurde auf der Stelle traurig und sehr bedrückt. Seine Frau war eine gute Frau – und eine wunderschöne dazu –, er konnte ihr ihren Wunsch nicht abschlagen. Aber seine Verwandten für einen Mantel töten?
Einige Tage lang grübelte er nach, dann machte er sich in den Wald auf, um die Eichhörnchenmutter um Rat zu fragen.
«Ich ahnte schon lange, dass das so kommen würde», sagte sie. «Du wirst uns wohl verraten und uns Gewalt antun müssen.»
«Ich werde die meinen nicht verraten und ihnen kein Leid zufügen!», erwiderte der Recke.
Zurück zu Hause, haute er sehr heftig mit seiner Faust auf den Tisch, und dann erteilte er seiner Frau einen Befehl.
«Einen Mantel besorge ich dir. Aber einen aus Ziegenfell. Und weder du noch sonst jemand rührt je die Eichhörnchen an, ist das klar?»
Onkel Prop lächelte, aber mit verhaltener Miene.
«So wurde der Recke zum Beschützer der Eichhörnchen. Seitdem essen die Eichhörnchen guten Menschen aus der Hand, den bösen aber nicht.“ So beendete er die Erzählung.
Wir verließen sein Haus und rannten über verschlungene Pfade heim, und dann sahen wir – in einer Tanne saß ein ganzes Rudel von Eichhörnchen. Wir blieben gleich stehen und riefen sie zu uns. In Blitzeseile sprangen sie, grauschwänzig, von einem Ast zum nächsten und schon waren sie bei uns. Die Vorderpfötchen wie Ärmchen vor der Brust gefaltet, beschnüffelten sie uns mit ihren Näschen und stierten uns neugierig aus ihren Äuglein an.
Matröna hatte uns Piroggen mitgegeben. Wir brachen sie in kleine Stücke und boten den Eichhörnchen an. Sie nahmen sie gierig aus unseren Händen.
So waren auch wir zu Beschützern der Eichhörnchen geworden.
Über das Ende der Welt
Einmal haben wir Prop bedrängt, uns mitzunehmen, als er Beeren pflücken wollte. Er rüstete uns mit Furnierkörben aus und band sie uns mit Stricken auf den Rücken fest.
Es war noch vor Sonnenaufgang, als wir losgingen, weil wir vor der Tageshitze fertig sein wollten. Erdbeeren wollten wir pflücken.
In dem Jahr gab es Unmengen an Schmetterlingsraupen. In einem Heuhaufen auf einem abgeernteten Feld, an dem wir unsere Taschen mit der Wegzehrung abgestellt hatten, gab es so viele Raupen, dass wir sie alle kaum von unseren Sachen abschütteln konnten. Wir fanden aber im Wäldchen nebenan eine kleine Lichtung und ließen uns dort nieder, um eine Pause zu machen. Dabei erzählte Prop uns eine weitere Geschichte.
«Kaum zu glauben», begann er, «aber wenn es auf den Feldern so viele Raupen gibt, deutet das darauf hin, dass das Ende der Welt nahe ist. Verantwortlich dafür sind nicht die Menschen, sondern die Götter…»
Vor langer Zeit hatten die Götter sich nämlich einmal auf dem Gipfel eines hohen Berges versammelt. Sie haben sich gestritten, da sie sich nicht einig werden konnten, wer unter ihnen der oberste Gott sei. Einer sagte, dass er es wäre, weil er das Wasser verwalte – ohne ihn würden die anderen Götter nichts mehr zu trinken haben, und das Gras würde nicht wachsen, und kein Mensch könnte je mehr geboren werden. Ein anderer Gott antwortete ihm, dass er für die Erde die Verantwortung trage, und wenn er ihre Festigkeit wegnähme, wie bitteschön sollten die Menschen und die Tiere sich dann noch fortbewegen? Der dritte Gott spielte mit seinen Blitzen, weil er sich für die Lichter am Himmel zuständig fühlte. Wenn er mal eben die Sonne verdunkle, müssten alle wie blind durch die Finsternis tapsen. Der vierte Gott drohte damit, die Luft abzuschaffen, denn dann würde alles Lebende ersticken. Kaum hatte er seine Drohung ausgesprochen, meldete sich noch ein weiterer Gott.
«Ich verschwinde, von mir aus!», sagte er. «Da ich nur für Lieder, Tänze und Kunst sorge, kann man gut ohne mich auskommen.»
Und er ging fort.
Die anderen Götter verstummten. Sie warteten, ob sich vielleicht noch ein weiterer freiwillig davonmacht. Solange sie aber warteten, beobachteten sie die Menschen.
Diese standen jeden Morgen früh auf, holten Wasser und machten Essen, darauf bestellten sie ihre Felder, und dann wurde es auch schon wieder Nacht. So ging es Tag für Tag und Jahr für Jahr.
Allerdings starben mit der Zeit viel mehr Menschen, als sonst üblich. Immer mehr. Auch viele, viele Tiere verendeten. Dafür vermehrten sich die grauen Raupen ungeheuerlich. Die Farben der Welt begannen zu verblassen, Beeren gab es keine mehr, weder rote noch gelbe. Die Vögel hörten auf zu singen. Sogar die Hunde verließen ihre Hütten nicht mehr. Dafür streunten die Hauskatzen durch die Wälder. Alles wurde grau, mancherorts sogar schwärzlich. Auch wenn die Sonne aufging, bedeckten Wolken sie stets. Die Menschen begannen, sich in ihren Häusern einzuschließen, und gingen nicht mehr raus.
Ein Gerücht machte die Runde – das Ende der Welt steht nah!
Die Götter versammelten sich wieder zu einem Rat.
«Wie kann das alles möglich sein? Die Erde ist fest gefügt, der Himmel, die Sonne, Luft, Wasser – alles ist da – und trotzdem geht alles zugrunde?»
«Die Lebenskraft ist verschwunden», sinnierte einer der Götter.
«Wir sollten den Gott der Künste zurückholen.»
Sie suchten ihn auf und baten ihn inständig zurückzukehren – und er tat es auch. Er brauchte nur zu lächeln, und die Vögel zwitscherten wieder, und das Gras grünte wieder. Alle Farben kehrten sogleich zurück. Die Menschen erfreuten sich an den Vögeln und auch wieder aneinander.“
Damit beendete Prop seine Erzählung. Ausgeruht und von Props Worten berührt, rannten wir hüpfend und Lieder singend nach Hause. Dass die schweren Körbe uns hart auf dem Rücken drückten, blieb uns ziemlich gleichgültig Wir hatten begriffen, dass der Trübsinn das Ende der Welt zur Folge haben würde. Wir aber wollten das Leben kennen lernen und uns an ihm erfreuen.